Sonntag, 3. Januar 2021. Von Jochen Usinger.
Zusammen mit meiner 94-jährigen im Rollstuhl sitzenden Mutter machen wir einen Spaziergang in der Krefelder Innenstadt. Vom Platz der Wiedervereinigung geht es durch den Bahnhof über in die Hansa- zur Neusser-, bzw. die Hochstraße ins Herz unserer Stadt. Bis zur Rheinstraße, ein Schlenker an der Dionysiuskirche vorbei über die Breite Straße zum Platz an der alten Kirche. Weiter über den Hirschfelder Platz bis zum Ostwall und wieder zurück zum Platz der Wiedervereinigung. Nicht spektakulär der Weg, aber eben ein Stück des Herzes unserer Stadt. Zugegebenermaßen auch kein schönes Wetter, welches durch Sonnenschein glänzt. Dazu kommt Sonntag zu Lock-Down Zeiten. Da kann die Welt nicht glänzen.
Eigentlich alles bekannt und doch waren wir danach fertig. Der Zustand dieser gebauten Umwelt ist erschreckend. Wilde Müllkippen, viel zu viel stehendes Blech, Leerstand, und so weiter und sofort. Wir kennen das. „Da rutscht einem ja sogar der Blick aus“ sagte meine 94-jährige, schwersichtige Mutter im Vorbeigehen der ehemaligen Buch Habel Fassade. Das Ende des Weges über den eigentlich ganz schönen Mittelstreifen des Ostwalls findet man dann an der Kreuzung Südwall. Da hätten wir vier Ampeln nehmen müssen, um für die letzten 100 Meter bis zum Bahnhof wieder den begrünten Mittelstreifen gehen zu können. Stattdessen an der Dönermeile vorbeigeschmuggelt, an zu weit auf dem Gehweg parkenden Autos. Wir waren froh, als wir hinter dem Platz der Wiedervereinigung ein Stück Wiese entdeckt haben. Da kam wieder ein Stück Optimismus auf – oder anders: Da haben wir gemerkt, wie furchtbar das Erlebnis Innenstadt war. Das machen wir nie mehr wieder. Zumal die Läden, die an normalen Tagen, zu normalen Zeiten geöffnet hätten auch nicht das grandiose Innenstadt-Shopping-Erlebnis hervorgebracht hätten.
Dieses verdammte Stück Wiese neben der Fabrik Heeder zeigte mir aber mal wieder, was der Innenstadt fehlt: das Grün. Die Fassaden der Häuser kann eine Stadtverwaltung nur indirekt beeinflussen, sei es der Zustand der bröckelnden Altbaufassaden oder die der banal, modernen Putzfassaden. Auch die Kirchen sind nun mal nicht mehr das, was sie mal waren, obschon sie als Gebäude in der Stadt so ungemein wichtig sind und guttun. Es fehlen die High-Lights von Gebäuden als Anziehungspunkte. Was strukturiert eine Stadt in der man sich gerne aufhält? Das sind doch die Wege durch die Stadt, das Aufsuchen von besonderen Punkten, von Zielen. Seien es Cafés, Plätze, Läden (nicht Shops), die so großartig sind, dass man dort gerne hingeht, Menschen trifft, dableibt. Das kann auch der nichtkommerzielle Stadtraum sein. Der Raum zwischen den Gebäuden, wenn er denn als schön empfunden wird.
Und genau das wäre doch unsere Chance für diese Innenstadt, von der wir alle wissen, dass sie eigentlich ganz schön ist hinsichtlich der Grundstruktur mit den vier Wällen, hinsichtlich der nicht unerheblich vorhandenen Altbaufassaden. Was fehlt sind die Aufenthaltsqualitäten eben des Außenraumes. Der Willy-Göldenbach Platz als Grünzone geplant, wird durch parkende Autos dominiert. Der Grünstreifen im Ostwall, kaum erreichbar und ein Stückwerk. Der Grünstreifen im Südwall, das gleiche Bild. Der Westwall, ein großer Parkplatz. Wo soll man hin? Wo sind die Punkte, die die Leute anziehen? Der Kenner findet vielleicht eine kleine Lücke wo er mal bleiben kann, aber die vielen Menschen werden durch die jetzigen Außenräume einfach nicht angezogen.
Stellen wir uns vor, auf den Wällen, der Hochstraße und all den weiteren Straßen innerhalb der Wälle könnten wir ungehindert gehen, uns mit dem Fahrrad fortbewegen, hätten zahlreiche parkartige Grünflächen. Es würden wieder viel mehr Menschen in der Innenstadt wohnen, die den Zwischenraum auch als Urban Garden nutzen, sich dort auf einen Plausch treffen, es gäbe Spielzonen. Grade die Innenstadt hat unglaublich viel Leerstand, also Reserven, der zu attraktiven Wohnungen umgebaut werden könnte. Innenhöfe sind oft völlig beruhigte Grünzonen. Und ganz wichtig, es gäbe Läden des täglichen Bedarfs, nette anziehende Cafés. Statt leerstehender Einzelhandelsflächen Coworking Areas für all die zahlreichen Home-Office Arbeitenden, die das Post Corona Zeitalter so dringend braucht. Alles mit so vielen Bäumen und Grünflächen versehen, dass die Autos höchstens noch zum Anliefern oder die Müllabfuhr zur Entsorgung ihren Platz finden. Der ruhende Verkehr komplett, in Worten: komplett, in Quartiersgaragen verbannt stört die menschlichen Blicke nicht mehr. Die Innenstadt als gebaute Umwelt wird wieder als schön empfunden, sodass auch die Kultur an vielen Orten stattfinden kann. Die Mediothek und das Theater sind natürlich fussläufig erreichbar mittendrin.
Es könnte glatt passieren, dass wir mit dieser Vision der Innenstadt Krefelds einem aktuell neuen Trend entkommen, etwas wirklich Tolles entgegensetzen könnten, dem Bauen auf der grünen Wiese und eben der neuen Landflucht. Ja, die gibt es wieder. Statistisch ziehen wieder mehr Menschen aus Metropolen aufs Land – Homeoffice macht’s möglich und die Selbstverwirklichung mit der Natur, dem Garten, evtl. dem Haustier.
Unvorstellbar, wenn wir stattdessen in der Stadt wohnend nicht von Autos mit manipulierten Auspuffanlagen, sondern vom krähenden Hahn eines naturnah orientierten Stadtbewohners aufgerüttelt würden, der auf dem Flachdach seines Hinterhauses eine kleine grüne Oase installiert hat. Stellen wir uns weiter vor, dass die Hochstraße, statt der zahlreichen Filialisten, die Dinge anbieten, die die meisten Menschen sowieso online bestellen nunmehr zur kombinierten Wohn– und Workingstraße wird.
Denn das Arbeiten genauso wie das Wohnen befinden sich in einem ungeheuren Wandel. Sie haben sich vermischt. Vor Corona hat die Bürowelt sich derart verändert, dass moderne Büros oft wesentlich mehr Aufenthaltsqualität boten, als leider viel zu viele Wohnungen, die nur noch als Schlafstatt dienten, da man sich im Büro mit netten Kollegen in wunderbaren Lounge Areas meeten durfte, die Yoga Session inklusive. Die Gastronomie mit zahlreichen Biergärten hat in den letzten Jahrzehnten magische Anziehungskräfte entwickelt. Auch da waren wir viel, wenn wir diese Orte kannten. Für Krefeld sei hier der Großmarkt oder das Stadtwaldhaus genannt, die Innenstadt hatte so etwas nicht. Aber nun wird genau das in der Innenstadt vermischt. Das Wohnen und das Arbeiten, die Versorgung in Kombination mit der Kultur. Der musischen, der theatralen, der bildenden, …, der Gesprächs- und Gastronomiekultur. Alles zusammen in derselben Innenstadt. Abends joggend die Vier Wälle rauf und runter – urban life.
Genau das waren meine Gedanken, als ich sonntags durch unsere Innenstadt gezogen bin, meine Mutter vor mir herschiebend war ich froh, dass sie nicht mehr gut sehen kann und dennoch hat auch sie es gespürt. Denn als wir zwei Tage vorher den Spaziergang über den Friedhof gemacht hatten, waren wir wesentlich besser gelaunt. Eine wunderbare Parkanlage. Wir Menschen brauchen Grün. Das zeigt der Drang in den Urlaub zu fahren, der Wunsch nach Natur am Wochenende.
Dass ein derartiger Umbau der Innenstadt auch der Natur und damit auch dem Klima zugute kommen würde sei nur nebenbei erwähnt, wäre aber eigentlich noch wichtiger.